Wissenschaftstheorie: Wozu Theorie? (AZT, Kapitel 1)  

Karl R. Popper, 1980


In seiner Logik der Forschung schreibt der Wissenschafts-Theoretiker Karl Popper:

Die Erfahrungswissenschaften sind Theoriensysteme. Man könnte die Erkenntnislogik die Theorie der Theorien nennen (Popper 1969: 31).


Diesem erkenntnisorientierten Wissenschaftsverständnis entsprechen mehrere Sachverhalte. So hat moderne Erfahrungswissenschaft, anders als die spätmittelalterliche Scholastik, etwa eines Meister Eckhart (Harrington 2018), logisch und empirisch überprüfbar vorzugehen. Empirisch prüfen lassen sich Aussagen aber umso besser, je allgemeingültiger und je bestimmter sie gefasst sind, je höher also ihr empirischer Gehalt ist (Popper 1969: 86). Daher strebt Wissenschaft danach, möglichst gehaltvolle (damit möglichst leicht überprüfbare) Theorie zu bilden.


Wissenschaftliche Rätsel und Paradigmenwechsel beziehen sich auf Fragen, Begriffe, Typologien und erklärungsfähige Modelle, kurz: Theorie (vom altgriechischen theoria: Anschauung, Betrachtung, Erkenntnis). Dementsprechend braucht wissenschaftliche Erkenntnisdynamik Theorien.


Analysieren heißt, Untersuchungsgegenstände nach einer rahmenden Theorie kognitiv aufzulösen und zu rekonstruieren – siehe beispielsweise die chemische Stoffanalyse nach dem Modell des Periodensystems. Analyse verlangt also nicht nur Sachkenntnis und geeignete Untersuchungsmethoden, sondern auch einen erkenntnisförderlichen theoretischen Rahmen.


Dynamische Theoriebildung setzt freies wissenschaftliches Denken und Kommunizieren voraus. Damit steht offene Theoriebildung im Umkehrschluss für effektive Wissenschaftsfreiheit.

Der Aufstieg der Naturwissenschaften und die ihm folgende enorme technologische Innovationsdynamik lassen sich als historischer, phasenweise enorm schwieriger, Durchsetzungsprozess freier Theoriebildung verstehen. In den Sozialwissenschaften, insbesondere der Politikwissenschaft, hat Theoriebildung dagegen bis heute nur einen geringen Stellenwert. Ja es herrscht die Vorstellung, Wissenschaft solle unmittelbar praxisorientiert arbeiten. So bestimmt die elfte Feuerbach-These Karl Marx`: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern (Marx 1845), bis heute in goldenen Lettern den Eingangssaal der Humboldt-Universität Berlin - Ausdruck eines tiefen Unverständnisses dessen, was Wissenschaft im Besonderen ausmacht.

Onlinequelle: Nordbayern.de


Vor allem aber dominiert die Vorstellung interdisziplinärer Praxisorientierung immer mehr die Finanzierung und Gestaltung der Sozialwissenschaften. Anstatt Erkenntnis zu fördern, herrscht damit immer mehr die Macht derjenigen, die das Machbare bestimmen; anstelle wissenschaftlicher Erkenntnisdynamik tritt bestenfalls kleinteilige praxeologische Optimierung, oft bürokratischer Stillstand oder Rückschritt.


Damit kommt es zu einer fatalen Disproportion: Während sich die Natur- und Technik-Wissenschaften  in einem Sturmlauf entwickeln und die Welt immer rascher und  tiefergehend verändern, dümpeln die Politik- und Sozialwissenschaften vor sich hin, ja verlieren in immer mehr Ländern jede Eigenständigkeit und Innovationskraft.

Der stürmische technologische Fortschritt erscheint damit lediglich als Variable gegenwärtiger und zukünftiger (geopolitischer) Macht, Politik verliert immer mehr emanzipatorische Kraft und Verantwortungsbindung.


Demgegenüber richtet sich die Theorie der Zivilität auf Erkenntnisgewinn im Sinn empirisch-analytischer Wissenschaft: Aussagen größerer Verallgemeinerbarkeit und Genauigkeit (höheren empirischen Gehalts) zu entwickeln und überprüfbar zu machen.


Literatur: 

AZT: Prittwitz, Volker von: Allgemeine Zivilitätstheorie, Berlin: Civility gUG, August 2025,

Harrington, Joel F. 2018: Meister Eckhart. Der Mönch, der die Kirche herausforderte und seinen eigenen Weg zu Gott fand, Siedler, München 

Marx, Karl 1845: Thesen über Feuerbach (aus Marx`s Notizbuch)

Popper, Karl R. 1969: Logik der Forschung, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Erstauflage 1934

Persönlicher Kommentar (V.P)


Dieser Text  steht in diametralem Widerspruch zur herrschenden Meinung auch unter Studierenden. Ich hoffe sehr, dass endlich eine wissenschafts- und politiköffentliche Diskussion über die Problematik beginnt.